Kommentar |
Die Musikwissenschaft als junge akademische Disziplin blickt bis in die Antike auf Entwicklungsstränge zurück, die als 'abendländisch', im engeren Sinne europäisch zentriert zu verstehen sind, wobei der Begriff des Abendlandes ideologisch ebenso kontaminiert ist wie ein Verständnis von (historischer) Musikwissenschaft als eurozentrische 'Werk'-Apologie. Bewegt man sich mit der Teildisziplin der Musikethnologie (Ethnomusikologie) aus Europa heraus, ist zu fragen, wie sehr wiederum eine europäische Perspektive zur (wertenden) Vergleichsfolie anfangs gewählt wurde. Auch die Teildisziplinen der systematischen Musikwissenschaft (etwa Musikpsychologie und -soziologie) können diesen ursprünglichen Fokus nicht verleugnen. In dem Bewusstsein, dass die Akademisierung von Musikwissenschaft im Verlauf des 19. Jahrhunderts und bis ins 20. Jahrhundert hinein, wie oben angerissen, eine stark kulturperspektivische Komponente hatte, ist neben dem eigentlichen Akademisierungsprozess zur differenzierten universitären Disziplin zu klären, welche historischen 'Zulieferer' relevant sind: etwa der Musikjournalismus seit dem 18. Jahrhundert, mittelalterliche Traktate oder die begriffsdefinitorisch, mathematisch und gesellschaftstheoretisch basierten Selbstvergewisserungen über den Gegenstand der Musik und seine Wissenschaft bereits in der Antike.
Ziel der gemeinsamen Arbeit im Seminar ist es, eine Vorstellung von Geschichte und Geschichtlichkeit der Musikwissenschaft, ihrer differenzierten Systematik und Funktion bis heute vor dem Hintergrund der Herausforderungen spezifischer (ggf. ideologischer) Narrative zu gewinnen. Denn insofern von voraussetzungsvoller vergangener Musikschöpfung und -praxis die Rede ist, tritt mit dem Begriff 'Geschichte' auch der darin enthaltene Teilaspekt 'Geschichten' in den Fokus: Es gibt nicht nur die verschriftlichte Musik, Traktate etc., sondern perspektivierende Geschichten über deren Produktion bzw. Produktionsumstände. Das, was passiert ist bzw. als 'Taten' gelten kann (res gestae), wurde berichtet (historia rerum gestarum), so dass jeder Geschichte auch immer ein eigener Blickwinkel des Erzählens dieser Taten und Ereignisse innewohnt. Es gibt also – auch in Bezug auf die Musikwissenschaft – nicht die Geschichte, wie sie war, sondern als perspektivisch-lebendige Geschichtlichkeit ein 'Narrativ' von Geschichte vor dem Hintergrund der Verfügbarkeit von Quellen, von deren Auswahl und Interpretation.
|
Literatur |
Literaturempfehlungen:
Adler, Guido: Umfang, Methode und Ziel der Musikwissenschaft, in: Vierteljahrsschrift für Musikwissenschaft 1 (1885), S. 5–20.
Auhagen, Wolfgang/Busch, Veronika/Hemming, Jan (Hrsg.): Systematische Musikwissenschaft. Ziele – Methoden – Geschichte, Laaber 2012.
Ders./Hirschmann, Wolfgang/Mäkelä, Tomi (Hrsg.): Musikwissenschaft 1900–1930. Zur Institutionalisierung und Legitimierung einer jungen akademischen Disziplin, Hildesheim u. Zürich 2017.
Ders./Schipperges, Thomas/Schmidt, Dörte/Sponheuer, Bernd (Hrsg.): Musikwissenschaft. Nachkriegskultur. Vergangenheitspolitik, Hildesheim u. Zürich 2017.
Bayly, Christopher A., Die Geburt der modernen Welt. Eine Globalgeschichte 1780–1914, Frankfurt u. New York 2006 (Kapitel: Wissenschaft im globalen Zusammenhang, S. 384–394).
Bruhn, Herbert/Rösing, Helmut (Hrsg.): Musikwissenschaft. Ein Grundkurs, Reinbek 1998.
Calella, Michele/Urbanek, Nikolaus (Hrsg.): Historische Musikwissenschaft. Grundlagen und Perspektiven, Stuttgart u. Weimar 2013. Dahlhaus, Carl: Musikwissenschaft und Systematische Musikwissenschaft, in: Ders.: Allgemeine Theorie der Musik II (Gesammelte Schriften 2), hrsg. v. H. Danuser, Laaber 2001, S. 604–630.
Ders./de la Motte-Haber, Helga (Hrsg.): Systematische Musikwissenschaft (Neues Handbuch der Musikwissenschaft 10), Laaber 1997.
Eggebrecht, Hans Heinrich: Musik im Abendland. Prozesse und Stationen vom Mittelalter bis zur Gegenwart, München 1991.
Finscher, Ludwig: „Diversi diversa orant“. Bemerkungen zur Lage der deutschen Musikwissenschaft, in: Archiv für Musikwissenschaft 57 (2000), S. 10–17.
Freitag, Werner D.: Der Entwicklungsbegriff in der Musikgeschichtsschreibung. Darstellung und Abgrenzung musikhistorischer Epochen, Wilhelmshaven 1979.
Gerhard, Anselm (Hrsg.): Musikwissenschaft – eine verspätete Disziplin? Die akademische Musikforschung zwischen Fortschrittsglauben und Modernitätsverweigerung, Stuttgart u. Weimar 2000.
Hentschel, Frank: Historische Musikwissenschaft: Gegenstand – Geschichte – Methodik, Laaber 2019.
Jordan, Stefan: Einführung in das Geschichtsstudium, Stuttgart 2005.
Ders.: Theorien und Methoden der Geschichtswissenschaft, Paderborn (3)2016.
Lütteken, Laurenz (Hrsg.): Musikwissenschaft. Eine Positionsbestimmung, Kassel. u.a. 2007.
Potter, Pamela: Die deutscheste der Künste. Musikwissenschaft und Gesellschaft von der Weimarer Republik bis zum Ende des Dritten Reiches, Stuttgart 2000.
Reinisch, Leonhard (Hrsg.): Der Sinn der Geschichte. Sieben Essays von G. Mann, K. Löwith, R. Bultmann, Th. Litt, A.J. Toynbee, K.R. Popper, H.U.v. Balthasar, München (4)1970.
Renthe-Fink, Leonhard: Geschichtlichkeit, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hrsg. v. J. Ritter, Bd. 3, Darmstadt 2019, Sp. 404–408.
Riemann, Hugo: Grundriß der Musikwissenschaft, Leipzig (2)1914.
Rösing, Helmut/Petersen, Peter: Orientierung Musikwissenschaft. Was sie kann, was sie will, Reinbek 2000.
Schulze, Winfried: Einführung in die Neuere Geschichte, Stuttgart (5)2010.
Simon, Christian: Historiographie. Eine Einführung, Stuttgart 1996.
Wald-Fuhrmann, Melanie/Keym, Stefan (Hrsg.): Wege zur Musikwissenschaft. Gründungsphasen im internationalen Vergleich, Kassel u.a. 2018.
Siehe ebenso Lexikonartikel zu 'Musikwissenschaft' resp. 'Musicology' und spezialisierte Artikel zu 'Musikgeschichtsschreibung', zu Teilbereichen der im weiteren Sinne Systematischen Musikwissenschaft: 'Musiktheorie', 'Musikästhetik', 'Musikpsychologie', 'Musiksoziologie', ebenso zu 'Musikikonographie', 'Musikkritik', 'Musikpädagogik', 'Musiktherapie' etc., sowie zu 'Musikethnologie'/'Ethnomusikologie' in einschlägigen Lexika (MGG, Grove u.a.).
|